Die Doppel-DVD präsentiert eine neue Rekonstruktion der Cinémathèque Suisse von Frank Borzages nur in Fragmenten erhaltenem Meisterwerk aus dem letzten Jahr des amerikanischen Stummfilms. Erstmals zu sehen ist eine lange Szene, die seinerzeit von der Zensur geschnitten wurden. Janet Bergstrom erzählt in einem für diese DVD-Edition erstellten Filmessay über die parallele Produktion von Borzages 7th Heaven, Street Angel, The River und Lucky Star sowie Friedrich Wilhelm Murnaus Sunrise, 4 Devils und City Girl im Fox-Studio. Ergänzend dazu finden sich auf der DVD die drei ersten erhaltenen Western von und mit Frank Borzage aus den Jahren 1915/16, zahlreiche Stand- und Werkphotos und Texte von Borzage-Biograph Hervé Dumont.
Die Filme
The River / Die erste Frau im Leben - USA 1929 - Regie: Frank Borzage - Drehbuch: Philip Klein, Dwight Cummins, nach dem Roman von Tristram Tupper - Kamera: Ernest Palmer - Darsteller: Charles Farrell, Mary Duncan, Ivan Linow, Margaret Mann, Alfred Sabato - Produktion: Fox Film Corp. - Premiere: 6. Oktober 1929
Murnau and Borzage at Fox - The Expressionist Heritage / Murnau und Borzage im Fox-Studio - Das Vermächtnis des expressionistischen Films - USA 2007 - Drehbuch und Regie: Janet Bergstrom - Schnitt: Karen Smalley - Ton: Devin McNulty - Produktion: Cinémathèque de la Ville de Luxembourg - Erstveröffentlichung
The Pitch o' Chance - USA 1915 - Drehbuch und Regie: Frank Borzage - Kamera: L. Guy Wilky - Darsteller: Helen Rosson, Frank Borzage, Jack Richardson, Lizette Thorne - Produktion: Mustang Features - Premiere: 24. Dezember 1915
The Pilgrim - USA 1916 - Regie: Frank Borzage - Drehbuch: Edward A. Kaufman - Kamera: L. Guy Wilky - Darsteller: Frank Borzage, Anna Little, Jack Richardson, Dick La Reno, Mary Gladding - Produktion: Mustang Features - Premiere: 9. Juni 1916
Nugget Jim's Pardner - USA 1916 - Drehbuch und Regie: Frank Borzage - Kamera: L. Guy Wilky - Darsteller: Anna Little, Frank Borzage, Dick La Reno, Jack Farrell - Produktion: Mustang Features - Premiere: 14. Juli 1916
Über die Filme
Mit seinem zentralen Thema des Verlangens ist The River der erotischste Film des stummen Kinos. Vom strahlenden Glanz seines Welterfolges und Oscars für 7th Heaven umgeben, konnte Frank Borzage (1894-1962), amerikanischer Regisseur italienisch-schweizerischer Herkunft, diesen Film in völliger künstlerischer Freiheit entwickeln. Riesige natürliche Kulissen wurden unter freiem Himmel auf einem Gelände der Fox Film in Westwood, Los Angeles, errichtet.
Die Ausgangssituation der Handlung ist von paradiesischer Einfachheit: Es geht um die Liebesinitiation eines unberührten jungen Mannes, eines Naturmenschen, durch eine geheimnisvolle Städterin, von der wir lediglich erfahren, dass sie "viel erlebt hat" und dass der Rabe ihres wegen Mordes inhaftierten Geliebten auf sie aufpasst. Es folgt das Wechselspiel von Verführung und Zurückweisung, von Listen und Hemmungen, von im falschen Moment eingestandenem Verlangen bis hin zur Verwandlung durch die Liebe. All dies spielt sich am Ufer eines Flusses ab, der körperliche Nacktheit (das Geschlecht), lebensgefährliche Strudel (die Leidenschaft), sowie Läuterung und das Versprechen auf eine harmonische Entfaltung (das Meer) enthüllt und offenbart.
Als der Film in die Kinos kam, war er vom Pech verfolgt: Unschlüssig, wie sie ihn bewerben sollte, staffierte die Fox das Werk mit einem musikalischen Prolog aus, sowie mit einem hinter dem Rücken des Regisseurs gedrehten Ende mit gesprochenen Dialogen (außerhalb der Vereinigten Staaten unveröffentlichte "Talkie"-Version). Die starke Sinnlichkeit der Bilder schockierte das puritanische Amerika: The River wurde in mehreren Staaten verboten und sein Vertrieb durch eine stillschweigende Übereinkunft eingeschränkt. Etliche Zeitungen verloren kein Wort über den Film und boykottierten seine Werbung, und selbst die "New York Times" widmete ihm lediglich eine verschämte, kleine Notiz.
In Europa fiel die Resonanz wärmer aus und die französischen Cinephilen, darunter der junge Marcel Carné, priesen den Film in den höchsten Tönen (7 Wochen Spielzeit in Paris). Die Surrealisten um André Breton entdeckten in dem in Frankreich unter dem Titel La femme au corbeau ("Die Frau mit dem Raben") verliehenen Film mehr Kühnheit und Erfindungsreichtum als in der gesamten französischen Avantgarde. Eine Saison lang weckte die verführerische Mary Duncan (1895-1993) ähnliche Träume wie Louise Brooks. Doch dann verschwand der Film und wurde zur Legende. Er galt als verloren, ebenso wie der andere legendäre Fox-Titel, Murnaus gleichzeitig gedrehter 4 Devils.
Diese DVD ist der Versuch einer Rekonstruktion, ausgehend von dem 43-minütigen Fragment (von 84 Minuten insgesamt), das William K. Everson und Alex Gordon bei der 20th Century-Fox entdeckt haben, ergänzt um eine von der schwedischen Zensur geschnittene Szene, die im wiedergefundenen Original nicht enthalten ist. Schaut man sich diese Bilder an, so bestätigt sich, dass es sich bei diesem Film nicht nur um das wichtigste Werk Borzages handelt, sondern auch um einen der verkannten Höhepunkte des Stummfilms. Zur Rekonstruktion des gesamten Handlungsablaufs werden die fehlenden Stellen (die erste und die letzte Rolle, sowie zwei Segmente in der Mitte des Films) durch Photos dargestellt, die aus der beim Academy Film Archive in Los Angeles hinterlegten Privatsammlung des Regisseurs und aus verschiedenen Kinematheken stammen, sowie durch Texttafeln, die sich an dem im Besitz des UCLA Film and Television Archive befindlichen Original-Drehbuch orientieren.
Interessant ist ein Vergleich dieses beschädigten Meisterwerks mit Filmen aus Borzages Frühzeit, die wie durch ein Wunder ihrer Zerstörung entgangen sind. Als geschätzter Darsteller der American Film Company in Santa Barbara hat Borzage seit Ende 1915 vor und hinter der Kamera gearbeitet. Seine Western-Zweiakter heben sich deutlich von der Standardproduktion ab: Statt den Kampf zwischen Gut und Böse mit Reiterhorden und Schießereien zu illustrieren, konzentriert Borzage seine Geschichten auf das Aufbrechen und Heranwachsen eines Gefühls. Er gibt kein Urteil ab, sondern entwickelt seine Figuren durch eine natürliche, sensible und überraschend moderne Führung seiner Darsteller.
Ein unreifer junger Mann wird sich der Erniedrigung bewusst, die eine "am Spieltisch gewonnene" Frau durchlebt (The Pitch o'Chance); ein wortkarger und menschenscheuer Einzelgänger verwandelt sich im Umgang mit einer Frau (The Pilgrim); ein von seinen reichen Eltern hinausgeworfener Jüngling muss sich unter den Verworfenen der Gesellschaft seinen Lebensunterhalt verdienen, wo er Freundschaft und Liebe findet (Nugget Jim's Pardner). Borzage spricht vom Erwachen einer Liebe, die durch das gegenseitige Zutrauen der Geschlechter und den Respekt des Anderen entsteht. Er beschreibt eine Art seelischer Wiedergeburt der Liebenden, in der der eine zum Katalysator der wahren Natur des anderen wird: Die gesamte Thematik von Borzages Universum ist hier schon im Ansatz vorhanden.
Hervé Dumont
DVD-Features
DVD 1
- The River 1929, 55'
- Murnau and Borzage at Fox - The Expressionist Heritage 2007, 36'
- Standphotos und Werkphotos zu The River
- Texte und Dokumente zur Produktionsgeschichte und Frank Borzages Anfänge als Filmregisseur im DVD-ROM-Bereich
DVD 2
- The Pitch o'Chance 1915, 25'
- The Pilgrim 1916, 28'
- Nugget Jim's Pardner 1916, 25'
- Musikbegleitungen von Günter A. Buchwald (Klavier, Violine und Viola)
- Werkphotos mit Frank Borzage bei Dreharbeiten zu seinen frühen Filmen
Herausgeber: Cinémathèque Suisse, Cinémathèque de la Ville de Luxembourg, Filmmuseum München
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
Tonaufnahmen: Gunther Bittmann, Ernst Schillert
DVD-Supervision: Stefan Drössler
1. Auflage Januar 2008, 2. Auflage August 2008, 3. Auflage November 2018
Besprechungen