In seinem 1919 in München gedrehten "Monumental-Film" Nerven versucht Robert Reinert "den Zündstoff, den Krieg und Not im Menschen erzeugt" haben, als "nervöse Epidemie" zu beschreiben, "die die Menschen befallen hat und zu allerhand Taten und Schuld treibt". Geschildert werden die Schicksale verschiedener Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: Im Mittelpunkt stehen der Fabrikbesitzer Roloff, dessen Glauben an den technischen Fortschritt zerbricht, der Lehrer Johannes, in Volksversammlungen soziale Reformen fordert, und die sich zur Revolutionärin wandelnde Marja, die zum bewaffneten Kampf gegen die Herrschenden aufruft. Das Filmmuseum München hat Robert Reinerts von der Zensur verstümmelten Filmklassiker aufwendig rekonstruiert, der Elemente des expressionistischen Stummfilms der 20er Jahre vorwegnimmt und ein einzigartiges Zeitdokument darstellt.
Der Film
Nerven - Deutschland 1919 - Drehbuch und Regie: Robert Reinert - Kamera: Helmar Lerski - Darsteller: Eduard von Winterstein, Lya Borée, Erna Morena, Paul Bender, Lili Dominici, Rio Ellbon - Produktion: Monumentalfilm Robert Reinert, München - Premiere: Dezember 1919, Kammer-Lichtspiele München - Rekonstruktion 2008: Filmmuseum München - Edition: Stefan Drößler - Bildbearbeitung: Christian Ketels - Musik: Joachim Bärenz - Tonaufnahmen: Gunther Bittmann, Ernst Schillert
Über den Film
Mitten in einer Zeit, da den Nerven alles zugemutet wird, was Menschen ertragen können, da Auf-ruhr, Hunger, politische und wirtschaftliche Kämpfe die deutschen Lande durchtobten, schuf Ro-bert Reinert dem wir schon manches schöne Filmwerk verdanken den Film "Nerven!" Ein Filmwerk, dessen Bedeutung nicht etwa nur in groß aufgemachten Massenszenen oder Sensatio-nen, in der Ausbeutung aller neuen filmtechnischen Möglichkeiten, sondern vor allem in der dichte-rischen Gestaltung liegt. Wie aus der Zeit für die Nachwelt erstanden, so mutet dieses Filmwerk, diese Filmdichtung an.
Was Reinert in seinem Werke schildert, ist in kurzen Worten nicht zu sagen. Es ist mit Worten überhaupt nicht auszudrücken, es muß empfunden werden. Der Titel läßt keine straff geführte Handlung zu. Das nervenzerrüttende Leben pulsiert, jagt, flackert vorüber. Fieberhaft. In Hunder-ten von Bildern verschiedenster Art. Nerven da jagen die zerrütteten Nerven durch ein Schimpf-wort gepeitscht einen jungen Gärtner in den politischen Kampf und lassen ihn zum Mörder werden, er weiß nicht warum. Nerven da schwört ein um seine Machtstellung ringender Fabrikant einen Meineid, weil ihn die zerrütteten Nerven glauben lassen er hätte eine Tat gesehen, die ihm seine Schwester nur erzählt, in kurzen Worten angedeutet hat. Nerven da bringt ein um Liebe ringen-des Weib einem unschuldigen Wesen ungewollt den Tod, weil ihre zerrütteten Nerven sie zu un-sinnigen Verzweiflungstaten führten. Nerven da stürmen aufgepeitschte Menschen auf einander; sinnlos, den Tieren gleich. Und im Mittelpunkt steht ein nervenstarker gesunder Mensch, der ruhig nimmt, was diese nervenzerrütteten Menschen um ihn herum zusammentragen. Nutzlos ist sein Versuch, sich gegen diesen Strom zu stemmen; da findet er den Weg aus dieser Wirrnis: zurück zur Natur! Es liegt mehr als ein Spiegelbild unserer Zeit in diesem Filmwerk. Es ist ein Fanal, das uns entgegenleuchtet.Robert Reinert hat sich wieder als erstklassiger Filmregisseur bewährt, sowohl in künstlerischer als technischer Beziehung. In packender überreicher Fülle läßt er die Bilder vorüberziehen, mitunter skizzenhaft, fast zu drängend. Ein expressionistischer Hauch liegt über dem Ganzen, zu dem man sich erst bekennen lernen muß. Mir wird es schwer, für diesen neuen Filmstil einzutreten, wie ich ja auch offen bekennen muß, daß die überreiche Fülle auf mich einen direkt beunruhigenden Ein-druck machte.
Heinz Schmid-Dimsch, Der Film 52/1919, Berlin 28.12.1919
Seit der Erfindung der Kinematographie meint man die künstlerischen Gesetze des Films in der gleichen Richtung suchen zu müssen wie beim Epos, beim Roman. Eine völlig andere Richtung schlägt hier zum ersten Male Robert Reinert ein. Er will durch das Laufbild in ähnlicher Weise künstlerische Werte schaffen wie es die Musik, die Symphonie tut. Nicht in Epik, in eine Gescheh-nisreihe setzt er inneres Erleben um; symphonisch will er uns einen Seelenzustand, ein Stück Ge-fühlswelt vermitteln durch nebeneinandergesetzte Bilder, bald symbolisch, bald real , oft beides phantastisch durcheinandergewirbelt. Mit der Sprache des Films, mit Bildern blutiger Straßen-kämpfe, Fabrikstädte einäschernder Explosionen, einsame Verzweiflung, wilden Verfolgungs-wahns, stolzer Schlösser, stummer Hochalpen-Majestät will Reinert, der Künstler, uns das wissen machen, was er beim Klang des Wortes "Nerven" empfindet. Von dieser künstlerischen Vorausset-zung ausgehend, daß wir hier vor einem Film-Tonwerk, nicht vor einem Film-Epos stehen, wird die Handlung, die bei diesem das Entscheidende, durchaus zur Nebensache; sie wird zum schmalen Band, das das Ganze nur lose zusammenhält.
Die Bilder sind jedenfalls hinreißend schön; Schöpfungen eines Meisters, angesichts deren man von bewunderndem Staunen erfaßt wird. Die technischen Leistungen sind einfach fabelhaft, und die Darsteller wissen sich durchaus in den Stil des Ganzen hineinzupassen. Alles in allem ist dieses Filmwerk etwas Neuartiges.
Hans Wollenberg, Lichtbild-Bühne 4/1920, Berlin 24.1.1920
DVD-Features
- Nerven 1919, 110'
- Kapitelwahl
- Klavierbegleitung von Joachim Bärenz
- Szenenvergleich der Fragmente des Films: Marjas Hochzeitsvorbereitungen 5'
- Szenenvergleich der Fragmente des Films: Beim Nervenarzt 8'
- Szenenvergleich der Fragmente des Films: Roloffs Wahn 6'
- Bilder von der Volksbewegung in München 1919, 3'
- München im Zeichen der Räterepublik 1919, 11'
- Plakate, Standfotos und Werbeanzeigen für den Film
- Booklet mit Essays zum Film von Jan-Christopher Horak, Stefan Drößler und David Bordwell
Herausgeber: Filmmuseum München, Goethe-Institut München
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drössler
1. Auflage Juli 2008, 2. Auflage Juni 2009, 3. Auflage Oktober 2015
Trailer zum Film
Besprechungen