Im deutschen Stummfilm der 1920er Jahre galt die Straße als Brennpunkt der Großstadt, als Metapher für ein anonymisiertes Leben in Hektik und Hast. Karl Grunes Filmklassiker DIE STRASSE war der Prototyp des "Straßenfilms". Er beschreibt die Erlebnisse eines Mannes, der aus seinem kleinbürgerlichen Dasein auszubrechen versucht und den Verlockungen des Nachtlebens zu erliegen droht. Schattenspiele des expressionistischen Films verbinden sich mit stilisiertem Realismus, der in die Neue Sachlichkeit führt. Der zur selben Zeit entstandene erstaunlich Informationsfilm GEFAHREN DER GROSSSTADT-STRASSE zeigt die Arbeit der Polizei anhand dokumentarischer Aufnahmen, nachgestellter Szenen und kleiner fiktiver Episoden. Er ist ein einzigartiges und höchst unterhaltsames Dokument über das Leben in der Stadt München. Beide Filme wurden vom Filmmuseum München aufwändig restauriert und von namhaften Stummfilmmusikern vertont.
Erscheinungsdatum: Januar 2025
Die Filme
Die Straße. Der Film einer Nacht - Deutschland 1923 - Drehbuch und Regie: Karl Grune - Kamera: Karl Hasselmann - Bauten und Entwürfe: Karl Goerge, Ludwig Meidner - Darsteller: Eugen Klöpfer, Lucie Höflich, Leonhard Haskel, Aud Egede Nissen, Hans Trautner, Max Schreck - Produced by: Stern-Film G.m.b.H., Berlin - Premiere: 20.11.1923 (Union-Theater am Kurfüstendamm, Berlin)
Gefahren der Großstadt-Straße - Deutschland 1924 - Drehbuch und Regie: Toni Attenberger - Kamera: Otto Trippel - Produktion: Cabinet-Film Toni Attenberger, München - Premiere: 15.12.1923 (Urania, Berlin)
Über Die Straße
Karl Grune (1890-1962) ist heute einer der weniger bekannten Filmregisseure des deutschen Stummfilms, der von den zeitgenössischen Kritikern in die erste Reihe der europäischen Filmkünstler gestellt wurde. Dies verdankt er vor allem dem Film DIE STRASSE, der als sein wichtigster Film gilt. Siegfried Kracauer veröffentlichte zur Frankfurter Premiere gleich zwei Kritiken zum Film und führte ihn in seinen Schriften immer wieder als Schlüsselfilm an, der das Genre des Straßenfilms begründet habe. Er definiert die Straßenfilme folgendermaßen: In allen bricht die Hauptfigur mit den sozialen Konventionen, um ein Stück Leben zu ergattern, aber die Konventionen erweisen sich stärker als der Rebell und zwingen ihn entweder zur Unterwerfung oder zum Selbstmord. Lionel Collier nannte DIE STRASSE im Kinematograph Weekly einen milestone in the progress of screen technique and art. Grune galt als fortschrittlich und innovative, weil er die Eigenarten des Films zu nutzen wusste. In seinem Aufsatz "Film ist Bewegungskunst" führte er seine Vorstellungen aus: Was die Bühne durch das Wort ausspricht, muss der Film allein durch die Bewegung deutlich machen, er muss das Wort als Verständigungsmittel auszuschalten versuchen. Das Bild darf nicht innerlich leere Illustration zu Zwischentexten sein, das Bild muss aus seiner eigenen Anordnung den Vorgang verständlich machen können. Wie die Musik eine Harmonie der Töne ist, so soll der Film eine Sinfonie des Lichtes sein, und wie selbst der Laie Musik genießen kann, so soll der Film auch noch demjenigen Zuschauer Genuss bieten, der nicht einmal die Handlung versteht.
Tatsächlich bildet die Geschichte des kleinen Bankangestellten, der sich von den durch die Fenster an die Decke seiner Wohnung geworfenen Schattenspielen zu einem Ausflug in den verlockenden Trubel des städtischen Nachtlebens hineinziehen lässt, nur den Rahmen für ein parallel erzähltes Panorama namensloser Protagonisten, die im Vorspann nur als "der Herr aus der Provinz", "das Mädchen", "der Bursche", "der Blinde" oder "das Kind" vorgestellt werden. Die Schauspieler agieren mit übertriebenen Gesten, die erklärende Zwischentitel überflüssig machen. Die wenigen Zwischentitel der Films enthalten nur Dialoge, die eigentlich entbehrlich sind und in ihrer Schlichtheit fast ironisch wirken. Ebenso stilisiert wie das Spiel der Darsteller sind das Dekor und die Bauten des zur Gänze im Studio und auf dem Ateliergelände entstandenen Films, für die Karl Görge (1872-1933) und der expressionistische Maler Ludwig Meidner verantwortlih waren.
Stefan Drössler
DVD-Features
- Die Straße 1923, 80'
- Msikbegleitng von Günter A. Buchwald und Frank Bockius
- Gefahren der Großstadt-Straße 1924, 67'
- Musikbegleitung von Richard Siedhoff
- Kapitalauswahl
- 16-seitiges Booklet mit Essays von Stefan Drössler, Eugen Klöpfer, Albert Sander, Louis Collier und Hans Spielhofer
Herausgeber: Filmmuseum München
DVD-Authoring: Tobias Dressel, Gunther Bittmann
DVD-Supervision: Stefan Drössler
1. Auflage Januar 2025