Die Künstlerin, Fotografin und Filmemacherin Ella Bergmann-Michel lebte und arbeitete seit 1920 auf der "Schmelz", einer alten Farbenmühle in der Nähe von Frankfurt am Main, die sich mit Gästen wie Kurt Schwitters und László Moholy-Nagy zu einem wichtigen Künstlertreffpunkt der Moderne entwickelte. Im Umfeld des "Bundes Das Neue Frankfurt", einer Reformbewegung um den Stadtbaurat Ernst May, gründete sie 1931 die "Arbeitsgemeinschaft für unabhängigen Film". Von 1931-1933 drehte sie fünf dokumentarische Filme, die ein in Deutschland seltenes Beispiel einer sozial engagierten und gleichzeitig künstlerischen Filmarbeit sind. Daß Bergmann-Michel nicht nur Filmemacherin war, sondern mit ihren Bildcollagen als Pionierin der klassischen Moderne gilt, die vom Bauhaus ebenso geprägt war wie vom Dadaismus, Surrealismus und Futurismus, zeigen ein Dokumentarfilm über die Künstlerin und ein umfangreiches Booklet mit Bio- und Filmografie, die die DVD abrunden.
Die Filme
Wo wohnen alte Leute - Deutschland 1931 - Regie und Kamera: Ella Bergmann-Michel - Drehbuch: Ella Bergmann-Michel und Mart Stam - Produktion: Ella Bergmann-Michel, im Auftrag des Architekten Mart Stam - Premiere: 10.1.1932, Kurbel Frankfurt
Erwerbslose kochen für Erwerbslose - Deutschland 1932 - Drehbuch, Regie und Kamera: Ella Bergmann-Michel - Produktion: Ella Bergmann-Michel, im Auftrag des Vereins der Erwerbslosenküchen Frankfurt - Premiere: 30.8.1932, Frankfurter Hauptwache
Fliegende Händler in Frankfurt am Main - Deutschland 1932 - Drehbuch, Regie und Kamera: Ella Bergmann-Michel - Produktion: Ella Bergmann-Michel und Paul Seligmann
Fischfang in der Rhön (an der Sinn) - Deutschland 1932 - Regie, Kamera und Produktion: Ella Bergmann-Michel - Mitwirkender: Robert Michel
Wahlkampf 1932 (Letzte Wahl) - Deutschland 1932/33 - Regie und Kamera: Ella Bergmann-Michel - Produktion: Ella Bergmann-Michel und Paul Seligmann
Fragmente - Undatierte experimentelle Aufnahmen, deren Negative Ella Bergmann-Michel für eine Serie von Fotoabzügen nutzte.
Mein Herz schlägt Blau - Ella Bergmann-Michel - Deutschland 1989 - Drehbuch, Regie und Kamera: Jutta Hercher & Maria Hemmleb - Musik: Ernst Bechert - Produktion: Jutta Hercher und Westdeutscher Rundfunk, Köln - Premiere: 25.4.1989, Oberhausener Kurzfilmtage
Über die Filme
In einer kulturellen Vereinigung "bund das neue frankfurt" mit seiner Zeitschrift gleichen Namens war unter andern Arbeitsgemeinschaften auch eine solche für die Verbreitung und Schaffung des guten Films gegründet worden. Sie war der Liga für unabhängigen Film angeschlossen worden. Geplant waren kritische Vorträge und die Herstellung eigener informativer Filme. Diese Arbeitsgemeinschaft wurde von einer Dreier-Gruppe geleitet deren Mitglied ich war. Eines Tages machte der Architekt Mart Stam mir den Vorschlag einen Film über das von ihm, Moser und Kramer gebaute Budge-Altersheim in Frankfurt zu drehen. Leider war ich noch nicht im Besitz einer eigenen Kamera. Es fand sich ein Fotograf, der einen Apparat mit Handkurbel besass. Nach einem von Mart Stam und mir angefertigten Manuscript übernahm ich die Regie. Licht und Sonne in grossen heiteren Räumen hatte dieser 1929 fertiggestellte, erstmalig für Frankfurt sehr moderne Bau, der mit allen Bequemlichkeiten für alte Leute ausgestattet war. So wurde das Altersheim aufgenommen und das Wohlbefinden der Alten gezeigt. Der Grundriss des Baues sowie die Veränderlichkeit einiger Räume wurde durch Zeichnung im Trick dargestellt. Nach der 1. Vorführung im Programm einer Matinée im "bund das neue frankfurt" mit den Filmen: Die neue Wohnung von Hans Richter und Abbruch und Aufbau von Wilfried Basse, stellte damals die Frankfurter Zeitung fest, dass es eine gelungene Kulturfilm Demonstration gewesen sei. Lichtspieltheater in Frankfurt und Berlin übernahmen den Film in ihr Beiprogramm. Verleiher war der "bund das neue frankfurt". In- und ausländische Baugesellschaften erwarben Kopien.
Ein Zufall liess mich den 35 mm Hand-Kinamo erwerben zu dem Joris Ivens geraten hatte. Er hatte mit einer solchen der sogenannten bewegten Kamera seinen Film Regen und Teile des Zuidersee-Films gedreht. Im Frühjahr 1932 wandte sich der Verein der Frankfurter Erwerbslosen-Küchen mit einer Bitte um einen kurzen Werbe-Film an verschiedene Filmgesellschaften. Hierüber berichtete die Frankfurter Volksstimme im Sept. 1932: "Es ist interessant, dass grosse Filmgesellschaften die Herstellung eines derartigen Bildstreifens wie den der Erwerbslosen-Küchen ablehnten, da schon die Kosten allein für den Lampenpark als zu hoch bezeichnet wurden. Frau Bergmann-Michel musste deshalb den Film auf eigene Faust trotz grosser Schwierigkeiten mit den geringsten Mitteln herstellen. Die schon so oft totgesagte Avantgarde des Films, die hier in Frankfurt in der dem 'bund das neue frankfurt' angeschlossenen Filmliga wirkt, hat mit der Lösung dieser aktuellen Aufgabe erneut ihre Existenzberechtigung erwiesen." Mit drei 1000 Watt-Lampen im Rucksack und dem kleinen Kinamo, dessen Negativfilm ich in den Kassetten in dunklen Kellern oder Fotogeschäften sofern sie überhaupt greifbar waren einlegte, hatte ich es geschafft. Aufzeichnungen als Resultat aus Beobachtungen in 28 Küchen, wo Erwerbslose 10.000 Ltr. Essen für Erwerbslose ausgaben, dienten als Unterlage für das Thema des Werbefilms, dessen Aufgabe es war überzeugend die Bitte um weitere Beiträge darzustellen. Der Film lief im Beiprogramm der Lichtspieltheater und als Freiluft-Film abends an der Hauptwache unter dem dortigen Schillerdenkmal. Einnahmen je Abend über 600 R.M.
Mutig ging ich an den 3. und 4. Film mit eigenen Ideen. Ein dokumentarischer Zeitbericht über die "Fliegenden Händler" in der Zeit der Arbeitslosigkeit gab das Thema. Mit der 35mm Handkamera liessen sich unbeobachtet auf Plätzen und Strassen von den Händlern Aufnahmen machen, von solchen mit teils sensationell aufgemachten Werbevorführungen sowie den anderen, die bemüht waren, den Beobachtungen der Polizisten zu entgehen, da versucht wurde, die Ware ohne Genehmigung zu verkaufen. Den Abschluss des Themas bildeten Jahrmarktshändler mit Vorführungen auf dem Rummelplatz der Grossmarkthalle. Dort bereits beschattet von politischer Polizei war ich froh, meine fertigen Film-Kassetten unangetastet nach Hause zu bekommen. Der 4. Film ein lyrisches Landschaftsthema Spaziergang in der Rhön, reizte mich vor allem durch den Fischfang, der die Veranlassung zu dem Spaziergang war und bei dem es mir gelang, die gegen Abend aus dem Fluss hochspringenden Forellen in das Bild zu bekommen.
Der letzte Film blieb ein Fragment. Es waren Aufnahmen von Wahlplakaten, von lebhaften Strassen-Diskussionen, von typischen den jeweiligen Parteien zugehörigen Anhängern. Die Frankfurter Strassen und Gassen bereits mit Hakenkreuz-Fahnen sowie Hammer und Sichel, und der bekannten Flagge mit den 3 Pfeilen geschmückt wurden dokumentarisch festgehalten. Dann musste ich die Aufnahmen aus politischen Gründen abbrechen. Es war Januar 1933. -
Alle meine kleinen Filme sind Stumm-Filme. Der Altersheim-Film und Erwerbslosen-Film haben Zwischentitel. Die Filmsprache jener Jahre in den Kurzfilmen wurde durch Bildausschnitt, Kamera-Bewegung, Schnitt und Montage erreicht - ganz analog denen in der Liga für den unabhängigen Film in den Matinéen vom "bund das neue frankfurt" gezeigten stummen Dokumentarfilmen Marseille von Moholy Nagy, Regen von Joris Ivens, Deutschlandfilm von Basse, Nanuk von Flaherty, Eiffelturm von René Clair.
Ella Bergmann-Michel: Meine Dokumentar-Filme, 1977
DVD-Features
- Wo wohnen alte Leute 1931, 13'
- Erwerbslose kochen für Erwerbslose 1932, 9'
- Fliegende Händler in Frankfurt am Main 1932, Arbeitskopie 21'
- Fischfang in der Rhön (an der Sinn) 1932, 10'
- Wahlkampf 1932 (Letzte Wahl) 1932/33, 13'
- Musikbegleitungen von Günter A. Buchwald
- Fliegende Händler in Frankfurt am Main 1932, Rohschnitt 46'
- Fragmente 1'
- Mein Herz schlägt Blau - Ella Bergmann-Michel Jutta Hercher & Maria Hemmleb, 1989, 30'
- 20seitiges Booklet mit Texten über Ella Bergmann-Michel
Herausgeber: Deutsches Filmmuseum, Frankfurt/Main
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Thomas Worschech, Monika Haas
1. Auflage Mai 2006, 2. Auflage August 2010
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