Ephraims Lessings pazifistisches Drama spielt im Jerusalem des 12. Jahrhunderts zur Zeit der Kreuzzüge, als Christentum, Judentum und Islam unmittelbar aufeinandertrafen. Der bildgewaltige Ausstattungsfilm mit Werner Krauss in der Titelrolle mußte sich schon während seiner Produktion im Jahre 1922 heftiger Attacken von seiten der Nationalsozialisten erwehren und ist heute völlig vergessen. Im begleitenden Booklet wird die komplexe Zensurgeschichte des lange verschollenen Films dargestellt. Das Filmmuseum München hat das einzige erhaltene Material des Films restauriert und nach den Konventionen der Zeit eingefärbt, so daß der Film nun als ein Meisterwerk des deutschen Stummfilms wiederentdeckt werden kann.
Der Film
Nathan der Weise - Deutschland 1922 - Regie: Manfred Noa - Drehbuch: Hans Kyser, nach dem Schauspiel von Gotthold Ephraim Lessing - Kamera: Gustave Preiß, Hans Karl Gottschalk - Darsteller: Werner Krauß, Carl de Vogt, Fritz Greiner, Lia Eibenschütz, Bella Muzsnay, Margarete Kupfer, Rudolf Lettinger, Ernst Schrumpf, Ferdinand Martini, Max Schreck, Ernst Matray - Produktion: Filmhaus Bavaria GmbH, München - Premiere: 29. Dezember 1922, Alhambra Berlin
Über den Film
Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichte sein "dramatisches Gedicht" 1779 als direkte Reaktion auf Angriffe aus orthodoxen religiösen Pastorenkreisen, denen er sich als Herausgeber eines religionskritischen Werkes von Samuel Reimarus ausgesetzt sah. Er siedelte seine Geschichte im Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge an, wo Christen, Juden und Muslime unmittelbar aufeinandertrafen. Sie droht im Religionskonflikt tragisch zu enden, doch der Titelfigur gelingt es durch Einsicht und Klugheit, eine Versöhnung der Glaubensgruppen herbeizuführen. Lessings Drama ist als "humanistisches Manifest", das für die "Toleranz des Glaubens und die Freiheit des Geistes" eintritt, in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen. Drehbuchautor Hans Kyser hat das Drama geschickt in kinowirksame Szenen aufgelöst und die bei Lessing erst am Schluß des Dramas aufgelöste Vorgeschichte als wuchtigen Prolog vorangestellt. Manfred Noa nutzte die Kreuzzugsschlachten und das exotische Ambiente für visuell eindrucksvoll gestaltete Massenszenen. Als Hauptdarsteller brillierten erfahrene Schauspieler aus anderen Erfolgsfilmen, so Werner Krauß (Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene) als Nathan und Carl de Vogt (Die Spinnen von Fritz Lang) als junger Tempelherr. Wie im zugrunde liegenden Drama endet die emotionsgeladene Inszenierung im leidenschaftlichen Appell an die Vernunft und für die Toleranz gegenüber Andersgläubigen.
Am 21. September 1922 wurde der Film Nathan der Weise der Filmprüfstelle München zur Begutachtung vorgelegt und abgelehnt. Die Kammer II der Filmprüfstelle München kommt zu einem anderen Urteil: "Sie [die Kammer] stimmte zwar den Gutachten insofern zu, als die Erscheinungszeit des Bildstreifens die denkbar ungünstigste sei und daß vielleicht - aber nicht wahrscheinlich - irregeführte Hitzköpfe an Orten mit stark antisemitischem Einschlag Krawalle machen könnten, sie stellte sich demgemäß auf den Standpunkt, daß daran nicht der Film, sondern die falsche Einstellung der Leute Schuld sei und daß schließlich ein Verbot den Film auch nicht vor den Auswüchsen solcher Leute schütze." Gegen die Zulassung durch die Kammer legte dann aber der Vorsitzende umgehend Beschwerde bei der Oberprüfstelle in Berlin ein, da die Kammer "den bestimmtest gefaßten und unzweideutigen Gutachten der Sachverständigen nicht genügend Rechnung getragen" hätte. Bevor es in der nächsten Instanz zur Verhandlung bei der Berliner Filmoberprüfstelle kam, gingen die Anfeindungen gegen den im Kino noch nicht gezeigten Film in München weiter. Die Lichtbildbühne berichtete von "Vernichtungsversuchen des Negativs seitens der Hakenkreuzler" im Oktober 1922, die aber offenbar fehlschlugen. Am 28. Dezember 1922 lehnte die Oberprüfstelle die Beschwerde gegen die Entscheidung der Filmprüfstelle München ab und betonte, sollte eine "antisemitische Hetze" einsetzen, dann geschehe dies aus Beweggründen, "die von außen willkürlich in den Inhalt des Films hineingetragen werden. Ereignet sich darnach aus solchen Gründen eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, so kann die Abstellung dieser Gefährdung (...) nicht durch die Versagungsgründe des Lichtspielgesetzes, sondern lediglich durch das Einschreiten der Polizeiverwaltungen erfolgen."
Nathan der Weise wurde schließlich am 29. Dezember 1922 im Berliner Kino Alhambra am Kurfürstendamm uraufgeführt. In den Werbeanzeigen wird dem Film der Slogan "Der Film der Humanität" vorangestellt. Am 28. Januar 1923 erschien im Branchenblatt Der Kinematograph eine ganzseitige Anzeige, die vom Erfolg des Films berichtete: "Daß die Grundstimmung klar herausgearbeitet und unzweifelhaft zu erkennen ist, bewies der spontane rauschende Beifall am Schluß" (Film-Echo), "Es war die zu Herzen der Zuschauer dringende wahre Menschlichkeit, die das Publikum häufig zu spontanem Beifall mitten in der Szene hinriß" (B.Z. am Mittag).
In München, der "Hauptstadt der Bewegung", waren die Versuche, den Film zu verhindern, noch nicht vergessen, als Nathan der Weise am 9. Februar 1923 in den Regina-Lichtspielen in München auf den Spielplan gesetzt wurde. Doch obwohl man vorsichtshalber auf jegliche Vorreklame verzichtete, trafen noch am selben Nachmittag die ersten Drohbriefe ein. Am Abend erreichte den Kinobesitzer ein Anruf, der ihm androhte, "daß, falls er den Film nicht vom Programm nähme, seine Bude am nächsten Abend kurz und klein geschlagen wird.'" Der um die kostbare Einrichtung seines Kinos fürchtende Betreiber wandte sich daraufhin an die Bavaria-Film. Die Lichtbildbühne vom Februar 1923 berichtete: "Herr Direktor Hoppe von der Bavaria (...) hielt eiligst eine Besprechung mit maßgebenden Persönlichkeiten ab. Im Bewußtsein der Gefahr und auch, woher sie zu erwarten sei, wurde beschlossen, sich mit dem Parteiführer Hitler direkt in Verbindung zu setzen. An Stelle Hitlers empfing sein Vertreter, ein gewisser Herr Esser, die Herren. Herr Direktor Hoppe erklärte sich bereit, eine Sondervorführung des Films für Herrn Esser zu veranstalten, damit er persönlich die Überzeugung gewinnen möge, daß dieser Film frei von jeglicher ihm zugemuteter Tendenz sei. (...) Nach der Vorführung gab Esser seiner Meinung Ausdruck, der Film sei ein Propagandafilm und beharrte darauf, trotz versuchter Widerlegungen des Direktors Hoppe." Im Völkischen Beobachter vom 16. Februar 1923 schrieb dann ein H.E. über die "jüdische Unterwanderung" der deutschen Filmwirtschaft: "Der Film, der uns gestern in den Räumen der Emelka-Gesellschaft vorgeführt wurde, ist ein einseitiger, geschickt aufgemachter, technisch zweifellos hervorragender, deshalb in seiner Wirkung aber nur noch stärkerer Tendenzfilm, darauf berechnet, in München, der Hochburg der antisemitischen Bewegung, der Bevölkerung unter großer Verdrehung der Tatsachen die Meinung aufzuzwingen, das Judentum sei weit besser und menschlicher als der Islam und das Christentum, und der Kampf gegen das Judentum die unglaublichste Ungerechtigkeit der Weltgeschichte. Es ist ein Verbrechen, in der Zeit der brutalsten Unterdrückung des einfachsten Menschenrechte durch einen von Rachefurien gepeitschten Feind dem deutschen Volk den letzten Rest des Willens, die Knechtschaft abzuschütteln, durch ein derartiges, von verlogener und geheuchelter Humanität triefendes, echt jüdisches Machwerk mit aller Gewalt auszutreiben." In München wagte daraufhin kein Kinobesitzer, den Film noch einmal einzusetzen. Erst im Oktober 1930 läßt sich eine öffentliche Vorführung nachweisen.
Der Film Nathan der Weise hatte auch im Ausland mit Schwierigkeiten zu kämpfen: 1923 wurde er in Warschau von der Zensur verboten, weil er die "humanitäre Rolle des Judentums" darstelle, "was gegenwärtig, im Zusammenhange mit der Hinrichtung des katholischen Priesters Budkiewicz in Moskau zu ungewünschten Reminiszenzen führen könnte." In Österreich lief er am 21. September 1923 unter dem Titel Die Träne Gottes an und erhielt von der Zensur "Schulverbot". Nach Hitlers Machtergreifung lassen sich keine Aufführungen des Films mehr nachweisen. Oskar Kalbus nannteihn in seiner 1935 veröffentlichten Filmgeschichte "Vom Werden deutscher Filmkunst" einen "typisch jüdisch gefärbten Film" und behauptete, er wäre bloß ein "didaktischer Kostümfilm" gewesen. Danach gerieten der Regisseur und sein Film völlig in Vergessenheit, Lessings Drama ist bis heute nicht noch einmal für das Kino adaptiert worden.
Das Filmmuseum München entdeckte den Film 1996 unter dem Titel Die Erstürmung Jerusalems in der Sammlung von Gosfilmofond in Moskau. Das russische Filmarchiv hatte von einer offenbar kolorierten, heute nicht mehr erhaltenen Nitratkopie des Filmes ein schwarzweißes Duplikatnegativ erstellt. Der Film ist - bis auf den fehlenden ursprünglichen Haupttitel und willkürlich gesetzte, nachgemachte Akttitel, die vom Filmmuseum München korrigiert wurden - vollständig erhalten geblieben und wurde 1997 erstmals wieder öffentlich aufgeführt. Für die DVD-Edition wurden im Jahr 2006 die Einfärbungen des Films gemäß den Konventionen der Zeit wiederhergestellt.
Stefan Drößler
DVD-Features
- Nathan der Weise (viragiert) 1922, 123'
- Kapitelauswahl
- Musikbegleitung von Aljoscha Zimmermann, aufgeführt von Sabrina Hausmann (Violine) und Mark Pogolski (Flügel)
- Improvisierte Klavierbegleitung von Joachim Bärenz
- Aushangfotos von 1923
- 16seitiges Booklet mit einem Aufsatz von Stefan Drössler zur Produktions- und Zensurgeschichte des Films
Herausgeber: Filmmuseum München
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drössler
1. Auflage Dezember 2006, 2. Auflage Mai 2007, 3., verbesserte Auflage November 2011, 4., verbesserte Auflage Dezember 2020
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