Dr. Magnus Hirschfeld (1868-1935) versuchte mit seinen sexualwissenschaftlichen Forschungen, Vorträgen und Publikationen Anfang des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Reformen zu initiieren. Ein wichtiges Medium für seine Aufklärungsarbeit war der Film. Das "sozialhygienische Filmwerk" Anders als die andern (1919), in dem Hirschfeld selbst auftrat, war der erste Film, der offen Homosexualität thematisierte. Er wurde seinerzeit von der Zensur vielerorts verboten und hat nur als Fragment überlebt. Neben einer neuen Rekonstruktion des Originalfilms präsentiert die Doppel-DVD erstmals auch den Kulturfilm Gesetze der Liebe (1927), in den Hirschfeld Teile des ersten Films einarbeitete, und den Spielfilm Geschlecht in Fesseln (1928) von Wilhelm Dieterle über die "Sexualnot der Strafgefangenen", der auf Forschungen basierte, die Hirschfelds Institut für Sexualkunde unterstützte. Zudem präsentiert die DVD eine Dokumentation über die Zensurgeschichte des Films und im ROM-Bereich seltene Originaldokumenten von Dr. Magnus Hirschfeld sowie einen Briefwechsel zwischen Richard Oswald und Veit Harlan, dem Regisseur von Anders als du und ich.
Die Filme
Anders als die Andern - Deutschland 1919 - Regie: Richard Oswald - Drehbuch: Richard Oswald, Magnus Hirschfeld - Kamera: Max Faßbender - Darsteller: Conrad Veidt, Reinhold Schünzel, Fritz Schulz, Anita Berber, Ernst Tittschau, Alexandra Wiellegh, Ilse von Tasso-Lind, Wilhelm Diegelmann, Magnus Hirschfeld - Produktion: Richard Oswald Film-Produktion, Berlin - Premiere: 28.5.1919, Berlin (Prinzeß-Theater) - Rekonstruktion 2019: Filmmuseum München - Edition: Stefan Drössler - Bildbearbeitung: Christian Ketels - Musik: Joachim Bärenz - Tonaufnahmen: Gunther Bittmann, Ernst Schillert
Gefährliche Neigungen - Die Skandalgeschichte von "Anders als die Andern" - Deutschland 2000 - Drehbuch und Regie: Gerald Koll - Kamera und Schnitt: Gil Freudenreich - Produktion: KirchMedia - Premiere: 10.2.2000 (Arte)
Gesetze der Liebe. Aus dem Tagebuch eines Sexualwissenschaftlers - Deutschland 1927 - Drehbuch und Regie: Magnus Hirschfeld - Mitarbeit: Professor Dr. Köhler, Dr. Hermann Beck - Darsteller: Conrad Veidt, Reinhold Schünzel, Fritz Schulz, Magnus Hirschfeld - Produktion: Humboldt-Film GmbH, Berlin - Premiere: 16.11.1927, Berlin (Beba-Palast Atrium) - Rekonstruktion 2019: Filmmuseum München - Edition: Stefan Drössler - Musik: Günter A. Buchwald - Tonaufnahmen: Gunther Bittmann
Geschlecht in Fesseln - Deutschland 1928 - Regie: Wilhelm Dieterle - Drehbuch: Herbert Juttke, Georg C. Klaren - Kamera: Walter Robert Lach - Darsteller: Wilhelm Dieterle, Mary Johnson, Gunnar Tolnæs, Hans Heinrich von Twardowski, Paul Henkels, Carl Goetz, Friedrich Kurth, Arthur Duarte, Gerd Briese, Hugo Werner-Kahle, Anton Pointer - Produktion: Essem-Film Prod. GmbH - Premiere: 24.10.1928, Berlin (Tauentzien-Palast) - Rekonstruktion 2020: Filmmuseum München - Edition: Stefan Drössler - Bildbearbeitung: Thomas Bakels - Musik: Joachim Bärenz - Tonaufnahmen: Gunther Bittmann, Ernst Schillert
Über Anders als die Andern
Es ist kein anderer Sexualaufklärungsfilm der Weimarer Republik erhalten, der in seiner künstlerischen Strenge und thematischen Konzentriertheit an diesen wohl berühmtesten Film der Gattung heranreicht. Um so mehr erstrahlt dieser Klassiker, der nun in neuer Rekonstruktion vorliegt. Auch wenn offensichtlich wichtige Bilder fehlen, überrascht, wie modern die Inszenierung von 1919 noch im Jahr 1927 gewirkt haben muss. Conrad Veidt zeigt sich zur Entstehungszeit von Das Cabinet des Dr. Caligari unzweifelhaft von dieser Welt, aber freilich ohne die aus Wienes Film berühmte Egon-Schielesche Physiognomie ungenutzt zu lassen. Er ist als Homosexueller überaus glaubhaft, gerade weil er jede Tuntigkeit vermeidet und durch eine, auch im immensen Spektrum dieses Schauspielers noch überraschende Individualität ersetzt: Anders als die Andern nennt es der Titel. Veidt verwandelt es in die Ausstrahlung unbezwingbarer Körperlichkeit, einen Ausdruck des Aparten, der sich seine eigenen Codes der erotischen Attraktion erspielt. Veidts Distanziertheit bei gleichzeitiger innerer Zerrissenheit, die er gegenüber dem Erpresser einnimmt, ist meisterhaft. Die vielleicht eindrucksvollste Szene aber ist eine hochexpressive Einstellung, in der der Liebhaber Kurt nach dem Kampf mit dem Erpresser zu Veidt emotional auf Distanz geht: Nur im Gesicht spielt sich dieser Prozeß des inneren Treuebruchs ab, der durch den äußeren Schock ausgelöst worden ist: ein leichtes Verhärten, unmerklich für den Partner und doch bereits endgültig. Obwohl das an einem authentischen Fall orientierte Drehbuch äußere Melodramatik komplett vermeidet, überzeugt Anders als die Andern gerade durch seine Emotionalität - eine Qualität, die diesen Film weit über den Status als Aufklärungsfilm hinaus interessant macht als frühes Beispiel des Kammerspielfilms.
Daniel Kothenschulte, Film-Dienst Nr. 3/2000
DVD-Features
DVD 1
- Anders als die Andern 1919, 52'
- Klavierbegleitung von Joachim Bärenz
- Gesetze der Liebe. Aus dem Tagebuch eines Sexualwissenschaftlers 1927, 101'
- Musikbegleitung von Günter A. Buchwald
- Gefährliche Neigungen - Die Skandalgeschichte von "Anders als die andern" 2000, 7'
DVD 2
- Different from the others 1919, 52'
- Klavierbegleitung von Joachim Bärenz
- Geschlecht in Fesseln 1928, 108'
- Klavierbegleitung von Joachim Bärenz
- ROM-Bereich mit ausführlichen Texten von Magnus Hirschfeld und einem bisher unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Richard Oswald und Veit Harlan, dem Regisseur von Anders als du und ich.
- 20-seitiges Booklet mit Dokumenten zu den Filmen und Texten von Stefan Drössler
Herausgeber: Filmmuseum München, Goethe-Institut München
DVD-Authoring: Tobias Dressel, Gunther Bittmann
DVD-Supervision: Stefan Drössler
1. Auflage September 2006, 2., um einen ROM-Bereich erweiterte Auflage Juli 2007, 3. Auflage Januar 2011, Neu erweiterte 4. Auflage Januar 2022
Besprechungen