Die Parallelstraße

Die Parallelstraße

Edition Filmmuseum 47

Die Parallelstraße ist ein nahezu vergessener, einzigartiger Klassiker des deutschen Films: Gedreht 1961, uraufgeführt 1962 im Jahr des berühmten "Oberhausener Manifests", das den Aufbruch des Jungen Deutschen Films markierte und von Regisseur Ferdinand Khittl (1924-1976) persönlich verlesen wurde, gezeigt auf den Filmfestivals in San Sebastian, Cannes und Knokke, vielfach preisgekrönt und vor allem von französischen Kritikern hochgelobt: "Die Parallelstraße ist ein philosophischer Thriller, ein Western der Meditation, der uns für ein ganzes Jahr voll unvermeidlicher Manifestationen des Schwachsinns entschädigt." (Robert Benayoun) Die DVD präsentiert den Film im Kontext mit kurzen Industrie- und Kulturfilmen von Khittl, die meist von der Gesellschaft für Bildende Filme (GBF) produziert wurden, darunter zwei Filme über die Stadt München und über das Oktoberfest..

Die Filme

Die Parallelstraße - BRD 1962 - Regie: Ferdinand Khittl - Drehbuch: Bodo Blüthner - Kamera: Ronald Martini - Musik: Hans Posegga - Schnitt: Irmgard Henrici - Darsteller: Friedrich Joloff, Henry van Lyck, Ernst Marbeck, Wilfried Schröpfer, Herbert Tiede, Werner Uschkurat - Produktion: Gesellschaft für bildende Filme, München - Premiere: September 1962, Internationales Filmfestival San Sebastian

Auf geht's - BRD 1955 - Regie: Ferdinand Khittl - Drehbuch: Just Scheu - Kamera: Gerd von Bonin - Schnitt: Hans Dieter Schiller - Produktion: Olympia-Film, München

Eine Stadt feiert Geburtstag - BRD 1958 - Regie: Ferdinand Khittl - Drehbuch: Ferdinand Khittl, Enno Patalas - Kamera: Fritz Schwennicke - Musik: Hans Posegga - Produktion: Gesellschaft für bildende Filme, München

Das magische Band - BRD 1959 - Regie: Ferdinand Khittl - Drehbuch: Bodo Blüthner, Ferdinand Khittl, Ernst von Khuon - Kamera: Ronald Martini - Musik: Oskar Sala - Schnitt: Irmgard Henrici - Darsteller: Margot Trooger, Ferdinand Khittl - Produktion: Gesellschaft für bildende Filme, München

Über Die Parallelstraße

Die Parallelstraße ist einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme überhaupt, ein Unikum, mit keinem Film seiner Zeit vergleichbar. Ferdinand Khittl (19241976), geboren in der Tschechoslowakei, war sechs Jahre lang Matrose bei der Handelsmarine, arbeitete nach der Kriegsgefangenschaft als Maurer, Bäcker, Hühnerzüchter und Vertreter für einen Filmverleiher in der Provinz, kam 1952 als Volontär zu Luis Trenker, war 1953/54 bei drei von dessen kurzen Dokumentarfilmen als Cutter tätig, stellte ab 1955 selbst Dokumentar- und Industriefilme her und fertigte 1957 eine lange Dokumentation über den Ungarnaufstand. Zusammen mit Haro Senft gründete er 1959 eine "Gruppe für Filmgestaltung" zur Förderung des Kurz- und Dokumentarfilms. Aus der Mitarbeit anderer junger Filmschaffender ergab sich 1962 in weiterer Folge das Oberhausener Manifest und im gleichen Jahr die Gründung einer Filmabteilung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, die sich als Nachfolgeinstitut des Weimarer Bauhauses verstand.

1959 und 1960 unternahm Khittl zusammen mit dem Kameramann Ronald Martini zwei ausgedehnte Weltreisen, die sie nach Asien, Australien, Ozeanien, Afrika und Südamerika führten. Nach der ersten Reise entstand aus dem Bestreben, das in Farbe auf 16 mm gedrehte Material zu verarbeiten, die Idee zu einem Film, der über das rein Dokumentarische hinausgehen sollte. Nach der zweiten Reise entwickelte sich, vor allem durch die Mitarbeit von Bodo Blüthner (19221999), nach und nach das Konzept und Drehbuch zu Die Parallelstraße. Produziert wurde der Film von Martinis Vater Otto Martini, für dessen "Gesellschaft für bildende Filme" Khittl, Ronald Martini und Blüthner sehr erfolgreich Industriefilme gedreht hatten. Blüthner hatte seit den frühen fünfziger Jahren außerdem u. a. mit Hans Rolf Strobel und Michael Ende Dokumentarfilme fürs Fernsehen hergestellt und war Regieassistent an den Münchner Kammerspielen gewesen. Das Drehbuch unterwirft die dokumentarischen, dem Stil der Zeit entsprechend zur Abstraktion neigenden Aufnahmen einem rigiden Konzept. In einer schwarz-weiß gehaltenen Rahmenhandlung, die schon im Bild ein Eingeschlossensein signalisiert, werden fünf Männer von einem "Protokollführer" angehalten, nach einem System, dem sich die Fünf unterworfen haben, eine Ordnung und damit einen Sinn in die mit Nummern versehenen 308 "Dokumente" zu bringen, die ihnen vorgeführt werden und von denen der Zuseher 16 zu sehen bekommt. Die Männer sind, wie der Protokollführer die Zuschauer gleich am Anfang wissen lässt, intellektuell und darum existenziell vom Scheitern bedroht.

In der Rezeption des Films wie auch in den Kommentaren seiner Autoren stand das Scheitern des "Gremiums" an seiner absurden Aufgabe im Vordergrund. Der Rezensent der Filmkritik brachte den Inhalt des Films witzig auf folgende Formel: "In einem Kafka-Raum sitzen fünf Ionesco-Personen in einer Sartre-Situation und mühen sich mit einem Camus-Problem." Den von der Reise mitgebrachten Aufnahmen warf der Kritiker vor, banal zu sein. "Warum hat Khittl", klagte er, "sich nicht an Eisensteins Arbeit in Mexiko erinnert?" Was Khittl und Blüthner sprachlich und in der Montage mit dem Material machten und mit welcher Konsequenz interessierte ihn kaum. Jedes der gezeigten "Dokumente" von wenigen Minuten Länge bietet durch ihre Verschiedenartigkeit einen anderen Zugang. Die Sprache, die sie beschreibt und vorgeblich erklärt, ist nüchtern und wissenschaftlich (gleich den zuvor gedrehten Industriefilmen). Auch die unterschiedlichen Themen (Wasser und Erosion, Reis in Asien, ein Flaschenbaum in Nordwestaustralien, ein Vulkan, Brasilia, das Wort "Löwenmut") könnten einem beliebigen Kulturfilm entnommen sein. Unversehens kippt aber die technische und filmische Sprache in eine absurde Ordnung, die die mit ihrer Beurteilung beschäftigten Männer vor die Frage stellt, ob von einer technischen oder seelischen Funktion der Dinge die Rede ist. Auch entkommen sie nicht der Evidenz des Absurden: Dinge stehen Kopf, Ludwig Tiecks Verkehrte Welt breitet sich aus. So wird die Geschichte eines Mannes in die Zukunft hin entworfen ("er wird ..."), während sich herausstellt, dass die Zeit nach rückwärts läuft. Durch Verschiebungen entsteht eine absurde Poesie: Ein "Gefangener", von dem die Rede ist, ist ein Fisch.

Gefangeneninseln in den Tropen werden in einer Umkehrung, die an Jean Genet erinnert, zu "Inseln der Glückseligkeit". Diese Methode funktioniert, weil Khittl und Martini sich bei den Aufnahmen gerade nicht an Eisenstein orientierten, sie vielmehr Bausteinen gleichen, die von Bedeutungen weitgehend unbelastet sind. Obwohl sie durch die Reisesituation nicht anders als von Zufällen bestimmt sein können, ist die Bildsetzung durch den Blick auf die neu zu erfahrende Welt nicht beliebig, werden einzelne Orte, etwa eine Brücke in Sydney, mit der Genauigkeit eines Dokumentarfilms erfasst. Die Erfahrung fremder Orte und das Spiel mit den Möglichkeiten, die sie der Erkenntnis bieten, sind Ausdruck von Freiheit und lassen Die Parallelstraße als eine Vorform des Road Movie begreifen. Es sind zwar die zurückgelegten Wegstrecken und die Form der Bewegung ausgeblendet, wenn man von den Flugzeugen, die am Anfang groß ins Bild kommen, und einigen Flug- und Fahrtaufnahmen absieht, aber wie beim Road Movie ist das Spannungsverhältnis zwischen dem beweglichen Individuum und der verharrenden Gesellschaft ausschlaggebend. Im Film wird daraus ein harter Gegensatz. Den zur Einhaltung von Regeln verpflichteten Vertretern eines anonymen Apparates, die Ordnung in die Dokumente aus dem Leben "einer fraglichen Persönlichkeit" bringen und sogar deren "Neutralisation" betreiben sollen, und selbst wie arretiert an ihrem Tisch im weißen Lichtkegel festsitzen, stehen höchst bewegliche, nämlich bunte, fantastische und poetische Kartografien der bereisten fremden Territorien gegenüber.

Der Film beginnt mit einem Filmende. Eine kurze Szene zeigt den Abschluss der zweiten Nacht, in der das "Gremium" zusammensaß. Es folgen ein Nachspann und eine Sprecherstimme, die die Mitwirkenden nett und ausführlich ("Sie sahen einen Film...") wie in einem Unterhaltungsfilm vorstellt. Dann wird der II. Teil als beendet erklärt und beginnt Teil III. Die "fragliche Persönlichkeit", die alle die Dokumente mit ihren korrekten wie absurden Sprachbildern liefert, sind die Autoren selbst. Hinter der Ernsthaftigkeit, mit der sie ihr Publikum in die Philosophie oder Verzweiflung trieben, lässt sich ein Sinn für Humor vermuten, der sich in einer kompliziert vorgetragenen Tautologie äußert: ein Film ist ein Film wie eine Reise eine Reise ist. Dass die Kartografien, die sie aus der Fremde mitbrachten, in der heimischen Landschaft, die kaum Freiräume zuließ, unverständlich sein würden, scheinen sie in ihrem Ordnungsspiel einkalkuliert zu haben.

Hans Scheugl

DVD-Features

  • Die Parallelstraße 1962, 83'
  • Kapitelauswahl
  • Filmmusik, 10'
  • Auf geht's 1955, 11'
  • Eine Stadt feiert Geburtstag 1958, 15'
  • Das magische Band 1959, 21'
  • Ferdinand Khittl 1965 1965, 3'
  • Ferdinand Khittl 1968 1968, 3'
  • Dokumente im ROM-Bereich
  • 20-seitiges Booklet mit Texten von Hans Scheugl, Kai S. Knörr, Stefan Drößler und Robert Benayoun

Herausgeber: Filmmuseum München und Goethe-Institut
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drößler

1. Auflage Juni 2010, 2. Auflage März 2014

Besprechungen

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