Ein Künstler huldigt dem anderen: casting a glance ist James Bennings filmische Hommage an die Spiral Jetty, Robert Smithsons legendäre "Land Art"-Skulptur im Großen Salzsee von Utah. Mit RR seinem Hymnus an die amerikanische Eisenbahn bringt der Filmemacher eine Ära zum Abschluss, indem er zu den Anfängen des Kinos zurückkehrt. Diese beiden Werke, die parallel zueinander gedreht wurden, markieren Bennings Abschied vom analogen Filmemachen und bilden gemeinsam ein profundes "Schlusswort" zum Medium Film artikuliert von einem seiner originellsten Erneuerer. Die Doppel-DVD präsentiert beide Filme sowie zwei Audio-Interviews, in denen Benning über seinen Schaffensprozess und über seine Erfahrungen bei der Produktion dieser Filme spricht.
Die Filme
casting a glance - USA 2007 - Ein Film von James Benning - Uraufführung: 15.9.2007 (documenta 12, Kassel)
RR - USA 2007 - Ein Film von James Benning - Uraufführung: 2.11.2007 (Österreichisches Filmmuseum, Wien)
Über die Filme
Dass sie Landschaften entlang der Zeitachse abbilden, zeichnet viele jüngere Arbeiten von James Benning aus. In den parallel zueinander entstandenen Filmen RR und casting a glance findet sich dieser Ansatz insofern zugespitzt, als darin zwei markante landschaftsverändernde Größen den Mittelpunkt bilden. Das eine Mal sind es Züge, welche die Weite des (amerikanischen) Landes durchmessen; das andere Mal ist es Robert Smithsons berühmtes Land-Art-Kunstwerk Spiral Jetty, das zum zentralen Akteur in Bennings komplexer Zeitstudie wird. Beide Male fungieren die "Protagonisten" Eisenbahn und Landzunge als eine Art Metrum, anhand dessen sich nicht nur ein temporales Werden, sondern auch eine Vielzahl von geschichtlichen und kulturellen Bezügen erschließt.
Das Kürzel "RR" steht für das amerikanische "Railroad" und wird auf Hinweisschildern bei Bahnübergängen verwendet. "RR" meint bei Benning aber noch viel allgemeiner jene technische Errungenschaft, die als Pionierleistung der Moderne die Landerschließung im 19. Jahrhundert überhaupt erst ermöglichte. Heute fast als Anachronismus angesehen, bildet die Eisenbahn, vor allem in Form des Güterzugs, immer noch das Rückgrat der transkontinentalen ökonomischen Infrastruktur. Kaum ein Bild bringt die Ambivalenz von Freiheit und Ausbeutung, von Frontier-Mythos und unumkehrbarer Zerstörung besser auf den Punkt. In kaum einem Artefakt der Moderne sind Segen und Fluch der Technik stärker miteinander verwoben.
Zwei Jahre lang sammelte Benning quer durch die USA Einstellungen von Zügen, wie sie in unterschiedlichsten Umgebungen das Sichtfeld der unbewegten Kamera durchqueren. Von Anfang bis Ende, sprich in voller Länge rollen die Stahlmonster durch die teils unberührten und idyllischen, dann wieder besiedelten und verunstalteten, schließlich die Ränder und Kanten des Kontinents anzeigenden Landstriche. Dieser Diversität der Drehorte korrespondiert eine morphologische Bestandsaufnahme verschiedener Zugsformen, Fahrtgeschwindigkeiten und Bildeinstellungen: Kurze bis extrem lange Güterzuggarnituren schieben sich teils schnell, teils langsam, einmal dominant im Vordergrund, dann wieder verschwindend klein im Hintergrund durch die unterschiedlich großen Landschaftsausschnitte. Jedes Mal ist dabei ein Überraschungs- bzw. Zufallsmoment mit im Spiel: So wie die Züge ganz plötzlich aus dem Fluchtpunkt des Bildes oder von der Seite her auftauchen, so bildet stets ihre reale Länge das Maß der jeweiligen Szene. Einige umfassen nur ein paar Waggons, der längste braucht ganze elf Minuten, um wieder im Off zu verschwinden.
Viele der Aufnahmen in RR entstanden während der sechzehn Fahrten, die Benning zwischen 2005 und 2007 zum Land-Art-Werk Spiral Jetty im Nordosten des Großen Salzsees in Utah unternahm. Der Künstler Robert Smithson hatte dort im April 1970 eine spiralförmige, 460 Meter lange und 4,6 Meter breite Landzunge aufschütten lassen einen "unbeweglichen Zyklon", ein "schlummerndes Beben inmitten wallender Stille", wie Smithson selbst sagte. Innerhalb weniger Jahre stieg jedoch der Wasserspiegel des Sees und ließ die Steinspirale unter seiner Oberfläche verschwinden. Erst 30 Jahre später, 2004, trat die Aufschüttung wieder aus dem Wasser hervor und ist seither, abhängig unter anderem von der Schneeschmelze auf den umliegenden Bergen, abwechselnd sicht- und unsichtbar.
Das solcherart entfachte Spiel der Natur besteht nicht zuletzt darin, dass die ursprünglich schwarzen Basaltsteine allmählich von einer weißen Salzschicht überzogen, nach ihrem Auftauchen vom Regen wieder "schwarzgewaschen" wurden, und so fort. Diesem von Smithson in Kauf genommenen, ja bewusst initiierten Entropie-Prozess trägt Benning insofern Rechnung, als er die innerhalb von zwei Jahren gesammelten Aufnahmen der Jetty auf ihre gesamte bisherige Geschichte seit 1970 umlegt. In insgesamt sechzehn Sequenzen, beginnend mit "april 30, 1970" und endend mit "may 15, 2007" (so die Inserts), rekapituliert casting a glance den Sichtbarkeitsstatus des Werks, wobei der jeweilige Wasserstand, mathematisch rekonstruiert, durch eine entsprechende Aufnahme wiedergegeben wird. Erst durch diese Zusatzinformation tritt die hochgradige Komponiertheit des Films zutage, der exemplarisch vorführt, wie sich Zeit kunstvoll dehnen, ja die Gegenwart auf die Vergangenheit umlegen lässt, ohne letzterer dabei Gewalt anzutun.
Christian Höller
DVD-Features (Doppel-DVD)
DVD 1
- casting a glance 2007, 77'
- James Benning: Casting a Glance at casting a glance 2012, 17'
DVD 2
- RR 2007, 107'
- James Benning: RR - JB - QA 2012, 19'
- 20-seitiges zweisprachiges Booklet
Herausgeber: Österreichisches Filmmuseum
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Oliver Hanley
1. Auflage Mai 2012, 2. Auflage November 2014