"Bilder von den späten 1980er Jahren in der DDR bis in die unmittelbare Gegenwart des Jahres 2008 in Deutschland. Das, was übrig geblieben ist, belagert meinen Kopf. Darin setzen sich all diese Bilder immer wieder neu zu etwas anderem zusammen, als zu dem, für das sie ursprünglich gedacht waren. Sie bleiben in Bewegung. Sie werden Geschichte. Das Material bleibt unvollständig. Es ist, was ich aufgehoben habe, was mir wichtig blieb. Mein Bild." (Thomas Heise) Ergänzend zu Material stellt die Doppel-DVD die ersten, in der DDR nicht öffentlich gezeigten Filmarbeiten von Thomas Heise vor: Seinen Abschlussfilm an der Filmhochschule Wozu denn über diese Leute einen Film? und die beiden Beobachtungen in Institutionen des Alltagslebens Das Haus / 1984 und Volkspolizei / 1985.
Die Filme
Material - Deutschland 2009 - Drehbuch und Regie: Thomas Heise - Kamera: Peter Badel, Sebastian Richter, Thomas Heise, Jutta Tränkle, Börres Weiffenbach - Schnitt: René Frölke - Produktion: Ma.Ja.De. Filmproduktions GmbH, Leipzig - Premiere: 12. Februar 2009, Internationales Forum des Jungen Films, Berlinale 2009
Wozu denn über diese Leute einen Film? - DDR 1980 - Drehbuch und Regie: Thomas Heise - Kamera: Dagmar Mundt - Schnitt: Beate Sell - Musik: Stefan Carow - Produktion: Hochschule für Film und Fernsehen, Babelsberg - Premiere: 20. September 1989, Akademie der Künste, Berlin/DDR
Das Haus / 1984 - DDR 1984 - Drehbuch und Regie: Thomas Heise - Kamera: Peter Badel - Schnitt: Gisela Tammert - Produktion: Staatliche Filmdokumentation beim Staatliches Filmarchiv der DDR, Berlin - Premiere: 21. November 2001, Filmkunsthaus Babylon, Berlin
Volkspolizei / 1985 - DDR 1985 - Drehbuch und Regie: Thomas Heise - Kamera: Peter Badel - Schnitt: Gisela Tammert - Produktion: Staatliche Filmdokumentation beim Staatliches Filmarchiv der DDR, Berlin - Premiere: 21. November 2001, Filmkunsthaus Babylon, Berlin
Über Material
Heise verknüpft Bilder, die er "rechts und links der Filme" zwischen 1988 und 2008 gedreht hat, bislang unveröffentlichte Szenen, Marginalien zum eigenen uvre und zur Zeitgeschichte, die sich, gebündelt, zu einer philosophischen Reflexion über deutsche Brüche und Umbrüche verdichten. Dabei werden die Sequenzen nicht, wie im Fernsehen meist üblich, zu einer flott geschnittenen, leicht bekömmlichen, möglichst unterhaltsamen Melange verrührt; im Gegenteil: Heise lässt sich Zeit, entfaltet Situationen und Atmosphären, stülpt Vergessenes, Verdrängtes oder nie Gewusstes nach oben. Die störrische Besessenheit, mit der Regisseur Fritz Marquardt am Berliner Ensemble bei der Inszenierung von Heiner Müllers "Germania Tod in Berlin" (1988) um ein einziges Wort ringt. Die gespannte Nervosität von Rednern, Fotografen oder Zuhörern am 4. November 1989, als auf dem Alexanderplatz die erste große freie Demonstration des DDR-Volkes stattfindet. Die Politbürogrößen, die von einer Sondertagung des SED-Zentralkomitees zu ihren draußen frierenden Genossen eilen und damals noch als Reformer bejubelt werden. Wärter und Gefangene des Zuchthauses Brandenburg, die im Dezember 1989 so offen wie nie zuvor und vermutlich auch nie danach über ihre Arbeit und ihre Lebensbedingungen sprechen. Ein Abgeordneter der Volkskammer, der sich in den letzten Tagen der DDR vor versammeltem Plenum als Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit outet und ausführlich die Gründe für diese Mitarbeit darlegt.
In solchen Passagen wird Geschichte nicht auf das schnelle, bequeme Schwarz und Weiß, das "Hosianna!" und "Kreuziget ihn!" reduziert; vielmehr eröffnet sich ein Universum der Vernetzungen und Verstrickungen, und der Zuschauer bekommt eine Ahnung davon, wie weit das Feld zwischen Unschuld und Schuld, Anpassung und Widerstand, politischer Identifikation und systemkritischer Ablehnung sein kann. Nicht zuletzt erweist sich Thomas Heises "Material" als eine Beschwörung jenes Gefühls von Freiheit, das in der DDR zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 für ein paar Wochen von einem utopischen Traum zur greifbaren Realität geworden zu sein schien. Fast am Ende seines Films dokumentiert Heise dann aber auch den Schritt von der Freiheit ins Chaos: Er beobachtet die Uraufführung seines Films STAU (1992) in Halle, die Zerstörung des Kinos durch linke Autonome, den Angriff von rechten Randalierern, die Verstörung und Angst der "bürgerlichen Mitte", die dem Krawall hilflos gegenübersteht.
Dieses "Material" ist kein leicht zu fassender Stoff, zumal Heise sich jede verbale Kommentierung und Erklärung, jede zeitlichen Einordnung etwa durch Zwischentitel versagt. Die Zuschauer sollen sich durch Sehen ihre Erklärungen selber suchen: Gedankenarbeit im Brechtschen Sinne. Großes, dialektisches Kino.
Ralf Schenk
DVD-Features (Doppel-DVD)
DVD 1
- Material 2009, 166'
- Kapitelauswahl
- 24-seitiges dreisprachiges Booklet mit Texten von Thomas Heise
DVD 2
- Wozu denn über diese Leute einen Film? 1980, 34'
- Das Haus / 1984 56'
- Volkspolizei / 1985 60'
Herausgeber: Filmmuseum München, Goethe-Institut und Dokumentarfilminitiative NW
DVD-Authoring: Ralph Schermbach
DVD-Supervision: Stefan Drößler
1. Auflage Juni 2011, 2. Auflage September 2011